Wissenschaft // 30.01.2016

ISPO 2016: Laufschuhsymposium

Zum dritten Mal hat die Runner's World im Rahmen der ISPO in München zum Laufschuhsymposium geladen. Vor Vertretern der Industrie und des Handels wurde über die Zukunft der Laufschuhe gefachsimpelt, insbesondere wie die Laufschuhberatung im Fachhandel in der Zukunft aussehen sollte. Dabei stützten sich die Vorträge auf den im letzten Jahr eingeläuteten „Paradigmenwechsel“, wie ihn Urs Weber von der Runner’s World im kurzen Rückblick nennt. Vergangenes Jahr wurde in der Tat die Überpronation als Verkaufsargument zu Grabe getragen, wobei es sich im damaligen Fazit seitens der Händler sehr zurückhaltend anhörte.

 

Wie verkaufe ich Laufschuhe in der Zukunft?

Runner's World Laufschuhsymposium 2016
Björn Gustafsson, früherer Profi-Triathlet, über die entscheidende Beinachse

Im ersten Vortrag referierte Björn Gustafsson, Gründer des Hamburger Unternehmens currex, das das Ziel verfolgt, die besten Analysesysteme und Verfahren für die orthopädische Laufanalyse zu entwickeln[1], über die Laufschuhberatung der Zukunft. Dabei griff er die im vergangenen Jahr vorgestellten Ergebnisse auf und unterstütze sie mit Ergebnissen aus eigenen Analysen in den Laboren von currex. Zentraler Punkt dabei: „Knie sticht Fuß“. Im Bewegungsablauf des Läufers sind es nicht in erster Linie die Füße, die in Form von Pronation und Supination für Verletzungen verantwortlich sind, sondern das Knie.

Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, wird eine ausführlichere Bewegungsanalyse als notwendig erachtet. Es genügt nicht, den Läufer auf dem Laufband von hinten anzuschauen und das Pronationsverhalten der Füße zu bewerten. Viel mehr müssen die gesamte Beinachse und das Zusammenspiel mit dem Becken in der Ansicht von hinten, von der Seite und von oben berücksichtigt werden.

Als Beispiel werden hierfür Bilder einer Läuferin auf dem Laufband vorgestellt. Der Standardblick zeigt einen Senkfuß mit leichter Pronation. Die Kniebewegung, erkennbar zum Beispiel durch Markierung der Kniescheibe und des Patellaansatzes und Betrachtung des Bewegungsablaufes von vorne, ist hingegen auf der Beinachse und damit optimal. Während im gestützten Schuh die Pronation „bekämpft“ wird und der Laufschuhberater bisher glücklich gewesen wäre, sorgt die Stütze gleichzeitig für eine Außenrotation der Knie, was entsprechendes Verletzungspotential bedeutet. Beheben lässt sich das Problem in diesem Beispiel durch passende Einlegesohlen.

Zum Abschluss des ansonsten sehr überzeugenden Vortrages kommt noch der „Werbeteil“ von currex: Mit der als „Motionquest Neo Monolith“[2] bezeichneten Druckmessung stellt currex Apparatur und Software zur Verfügung, damit Händler eine hochauflösende Druckanalyse der Füße inklusive Empfehlung bestimmter Schuhe* oder Einlegesohlen in ihrem Geschäft durchführen können. Die Analyseergebnisse können im Anschluss per Mail an den Kunden verschickt werden und dieser kann sie sogar auf Facebook und co „teilen“. Von currex als innovatives Feature gedacht, um die Kunden aus der „modernen“ Welt zu gewinnen, stößt dieser Umstand bei einem Händler gleich auf große Missgunst. Er fürchtet, dass die Kunden im Anschluss mit den digitalen Ergebnissen zum billigeren Onlinehandel rennen. An die positive Werbung („Schau an, was für eine tolle Analyse die in Laden XYZ machen kannst“) wird von ihm nicht gedacht.

* Interessantes Detail: Die Software lässt sich auch so einstellen, dass unter den gezeigten Empfehlungen auch immer mindestens ein Schuh eines bestimmten Herstellers ist.

 

Stride Dynamics and Footwear Selection: From the Lab to your Retail floor

Runner's World Laufschuhsymposium 2016
Spencer White über die Aufgaben der Laufschuhberatung

Im zweiten Vortrag stellt Spencer White, Vice President des Saucony Human Performance and Innovation Lab, Details zu den Dynamiken beim Laufen vor. Dabei verdeutlicht er, was auch im letzten Jahr bereits aufgezeigt wurde: Die wirkenden Kräfte auf die Füße sind in der Standphase größer als in der Landephase. Bestimmte Sohlenkonstruktionen können dabei auch nicht die Kräfte an sich ändern sondern nur die Verteilungen der Kräfte justieren.

It's not how much a runner pronates that matters, but whether their body can handle how much they pronate.

Essentiell ist dabei, dass der jeweilige Läufer die entsprechenden Belastungen aushält. So werden Bilder aus dem eigenen Labor gezeigt, bei denen ein Läufer eine 4:20 auf dem Laufband läuft - pro Meile, nicht pro Kilometer! - und extrem proniert. Für diesen Läufer stellt das aber überhaupt kein Problem dar, einfach weil sein Körper es gewohnt ist.

Als optimale Lösung wird auch in diesem Fall ein Laufband mit Kameras von allen Seiten empfohlen, das preislich aber weit über den Mitteln eines Fachhändlers liegt. Das umsetzbare Fazit: Auf den gesamten Körper schauen und einen Service bieten, den der Online-Handel nicht bieten kann. Und außerdem, quasi als Mutmacher: eine Studie hat gezeigt, dass die Läufer ein um 38 % gesenktes Verletzungsrisiko haben, wenn sie mindestens zwei verschiedene Paar Laufschuhe im Wechsel nutzen.

 

Minimalism, Maximalism, Traditional - Where to from here?

Im letzten Vortrag referiert Dr. Simon Bartold, jetzt als Experte bei Salomon im Einsatz, über die Zukunft der Laufschuhe und stellt einige Thesen auf, was sich in den nächsten drei Jahren ändern wird. Das sind in erster Linie Änderungen, die den Aufbau der Schuhe selbst betreffen. Keine dual density Mittelsohle und keine GEL-Elemente mehr, dafür dürften Boost-Materialien und die Ansätze von Hoka auf dem Vormarsch sein. Laufschuhen aus 3D-Druckern hingegen prognostiziert er für die nahe Zukunft noch keinen Durchbruch. Bevor diese Thesen aufgestellt wurden, hat natürlich auch Simon Bartold noch einmal das wiederholt, was letztes Jahr vorgestellt wurde („I had no idea that Benno showed that last year“). Ich für meinen Teil habe damit zumindest oft genug gehört, dass die Überpronation als Verkaufsargument ausgedient hat.

 

Podiumsdiskussion: Was sind die Konsequenzen?

Runner's World Laufschuhsymposium 2016
Urs Weber (Moderation), Dr. Simon Bartold, Björn Gustafsson, Guido Geilenkirchen, Björn Seifert und Martin Grüning (v.l.)

Abschließend wird in einer Podiumsdiskussion mit Dr. Simon Bartold, Björn Gustafsson, Guido Geilenkirchen (von Saucony, als Vertreter für Spencer White), Jörg Seifert (von Deine Laufprofis, einem Zusammenschluss von Laufhändlern) und Martin Grüning (Chefredakteur der Runner’s World) versucht, die Konsequenzen aus dem Vorgestellten zu ziehen.

Björn zieht dabei das Fazit, dass der Paradigmenwechsel durchaus erst einmal verdaut werden muss und hofft, dass die Änderung nicht einfach „ausgesessen“ wird. - So wie seit zwei Jahren? - Martin stellt die Frage, wie der Wandel dem Kunden vermittelt werden soll. - Die Frage, die wir Laufblogger letztes Jahr genau hier ebenfalls gestellt haben. - Die Kunden sind schließlich argwöhnisch und zweifeln jegliche Änderungen als reine PR-Kampagnen an - wie die ersten Kommentare auf Martins Facebookseite zum Symposium erahnen lassen. Aus Sicht von Jörg ist das Ganze aber keine Kehrtwende sondern nur ein „Upgrade“ der Analyse. - aha?

Aus dem Publikum kommt die Anmerkung, dass die anwesenden Händler ohnehin längst nicht nur auf die Pronation schauen und sich bereits angepasst hätten. Es wird angezweifelt, ob dies der richtige Rahmen für entsprechende Empfehlungen sei. - Zugegeben, ich war recht lange nicht mehr im Fachhandel und habe mich der Beratung ausgesetzt gesehen. - Ein weiterer Teilnehmer aus dem Publikum moniert, dass die Laufschuhhändler hier als „die Bösen“ dargestellt werden. „Wer sagt denn, dass sich Läufer in Schuhen, die im Fachhandel gekauft wurden, verletzen?“ - ganz im Sinne von: der böse Onlinehandel ist Schuld - Das kann Björn aber sogleich entschärfen. Die Studien über die Verletzungen von Läufern sind aus den 70ern, damals wurde sicherlich noch nicht im bösen Onlinehandel gekauft. Stattdessen formuliert er die Anschuldigung in Richtung Fachhandel recht deutlich: „Ihr verkauft Schuhe auf dem Kenntnisstand von 1980!“ - Ob die Händler vor Ort den Auftritt von Björn Gustafsson auch so gut finden wie ich?

Danach geht es interessant weiter: Viele Kunden sind mit den gekauften Schuhen schließlich glücklich, da müsse man überhaupt nicht viel, vor allem nichts drastisch ändern. Viele Verletzungen kommen schließlich vom Laufstil und den Umfängen, nicht von den Schuhen. Anderseits verdeutlicht Simon noch einmal, dass bisher alles zu sehr verkompliziert wurde. Die derzeitige Einteilung in Kategorien sei zu umständlich und überholt. Björn und Martin fügen außerdem an, dass sie zu ihren besten Zeiten in den Schuhen ihres jeweiligen Sponsors gelaufen seien, die am schönsten waren - mehr spielte damals keine Rolle. 

Das letzte Fazit schließlich: Für den Fachhandel sind das doch gute Nachrichten. Eine individuelle Beratung ist auf jeden Fall notwendig, weil die einfache Einordnung „du pronierst, du brauchst einen Schuh mit Stütze“ nicht mehr gültig ist.

 

Zum Abschluss: Meine persönlichen Eindrücke

Am Ende bin ich zunächst einmal glücklich, dass die Diskussion in diesem Jahr gewissermaßen angenommen wurde, während im Vorjahr die meisten Teilnehmer noch sehr zurückhaltend wirkten. Dabei zeigte sich aber auch, was aus reiner Läufersicht zu befürchten war: Es geht nicht in erster Linie um den Hersteller und um Ansätze für neuartige Schuhmodelle, sondern um den Handel und wie dieser die Kunden für sich gewinnt, insbesondere im Konkurrenzkampf mit dem Onlinehandel.

Ein wirkliches Fazit, eine Art „Lösung“ für den angedeuteten Paradigmenwechsel, gibt es aus meiner Sicht nicht. Für den geübten Läufer, der seinen Körper kennt und sich auf sein Gefühl beim Laufschuhkauf verlassen kann, ändert sich ohnehin nichts. Das hilft aber dem Laufanfänger, der einen passenden Schuh benötigt, auch nicht weiter. Wie der Fachhändler diese Anfänger in Zukunft beraten soll, ohne sich eine ganze Stunde Zeit nehmen zu müssen oder einfach zu sagen „Probieren Sie alle Schuhe mal aus und nehmen sie den, der Ihnen am besten gefällt“, erschließt sich mir noch immer nicht ganz.